2. Quellen
Chlorierte cyklische Kohlenwasserstoffe werden als Insektizide und Akarizide eingesetzt. Dank starken gesetzlichen Schranken gegen die Herstellung und Anwendung sind akute Tiervergiftungen mit diesen Stoffen in westlichen Ländern zu einer Rarität geworden. In tropischen Gebieten scheint aber eine wirksame Malariabekämpfung ohne chlorierte Kohlenwasserstoffe nicht möglich zu sein und diese Substanzen werden deshalb in vielen Entwicklungsländern noch breit angewendet. In unseren Breitengraden kommt Lindan (das γ-Isomer von Hexachlorcyclohexan) in Form von Pudern und Wasch-, Bade-, Sprüh- oder Emulsionslösungen sowohl in der Human- wie auch in der Veterinärmedizin gegen Ektoparasiten zum Einsatz. Als weiterer Chlorkohlenwasserstoff wird Bromociclen zur Bekämpfung von Ektoparasiten angewendet.
3. Kinetik
Wegen ihrer Lipophilität dringen die chlorierten cyklischen Kohlenwasserstoffe auf allen bekannten Wegen (oral, über die Haut oder über die Lungen) in den Körper ein. Die meisten Vertreter dieser Stoffklasse weisen eine hohe Resistenz gegenüber chemischen oder enzymatischen Abbauprozessen vor, womit diese Verbindungen im Körperfett zum Teil über Jahrzehnte gespeichert werden. Diese Fettdepots können bei Unterernährung oder infolge zehrender Krankheiten wieder freigesetzt werden. Nur einige Vertreter dieser Stoffgruppe wie Endosulfan, Lindan, Toxaphen und besonders Methoxychlor zeichnen sich durch eine geringere Persistenz in der Umwelt und im Gewebe aus. Heptachlor wird nach Aufnahme in die Leber zu einem hochtoxischen Epoxid umgewandelt. Ein beträchtlicher Teil der aufgenommenen Organochlorverbindungen wird über die Milch ausgeschieden.
4. Toxisches Prinzip
Sensorische und motorische Neuronen stellen den Wirkungsort der akut toxischen Wirkung der chlorierten cyklischen Kohlenwasserstoffe dar. Insbesondere werden akute Vergiftungen auf eine Blockade von Na
+-Kanälen zurückgeführt, wobei die Neuronen der Arthropoden um einen Faktor 10'000 empfindlicher sind als jene der Säugetiere. Hierzu lagern sich die cyklischen Chlorkohlenwasserstoffe in die Phospholipidschicht der Nervenmembranen ein und behindern das Schliessen der während der Depolarisationsphase geöffneten Na
+-Kanäle. Dies verzögert die Wiederherstellung des Membran-Ruhepotentials und damit bleiben die Nervenzellen in einem gesteigerten Erregungszustand.
Auf einem ganz anderen Mechanismus, nämlich der spezifischen Bindung an intrazelluläre Rezeptoren, beruht die chronische Wirkung der chlorierten cyklischen Kohlenwasserstoffe. Zum Beispiel interagieren diese Stoffe mit dem Arylhydrocarbon-Rezeptor (Ah-Rezeptor). Dadurch entsteht ein aktiver Rezeptorkomplex, der die Genexpression umprogrammiert mit der Folge, dass die Transkription bestimmter Gene stimuliert und entsprechende mRNA gebildet wird. Über Aktivierung dieses Ah-Rezeptors führen schon kleine Dosen der chlorierten cyklischen Kohlenwasserstoffe zu einer Induktion des endoplasmatischen Retikulums mit Neubildung von Cytochrom-P
450-abhängigen Enzymen. Auch die Tumor promovierende Aktivität der Organochlorverbindungen basiert vermutlich auf der Bindung mit intrazellulären Rezeptoren. Als weitere rezeptorvermittelte Wirkung sind chlorierte cyklische Kohlenwasserstoffe in der Lage, mit Östrogen- oder Androgenrezeptoren zu interagieren. Dabei enstehen Rezeptorkomplexe, die die Genexpression so umprogrammieren, dass die hormonelle Steuerung der Geschlechtsdifferenzierung und Reproduktion fehlgeleitet wird.
4.3 | Toxizität der Lösungsmittel |
Wegen der Unlöslichkeit in Wasser enthalten viele Insektizidpräparate mit chlorierten cyklischen Kohlenwasserstoffen auch organische Lösungsmittel, die ebenfalls zur Toxizität beitragen können.
5. Toxizität bei Labortieren
Akute orale LD50 (in mg/kg Körpergewicht):
| Maus | Ratte | Kaninchen | Huhn |
Aldrin | 39.6 | 7-67 | 50-80 | |
Bromociclen (Bromodan) | | > 6'000 | | |
Chlordan | 430 | 250-283 | 300 | 220-1'200 |
Chlordecon (Kepon) | | 95-132 | 65-71 | |
DDD (Dichlordiphenyldichlorethan, Rothan) | | 400 | | |
DDT (Dichlordiphenyltrichlorethan) | 150-300 | 87-300 | 250-300 | |
Dicofol (Kelthan) | | 575-1'495 | 1'870 | |
Dieldrin | 38 | 40-87 | 45 | 20 |
Dienochlor | | 1'200-3'160 | | |
Endosulfan | | 40-110 | | |
β-Endosulfan | | 240 | | |
Endosulfansulfat | | 18 | | |
Endrin | | 3-17.5 | 7 | 2-4 |
Heptachlor | 68 | 130 | | |
Hexachlorbenzol | | > 3'500 | | |
Isodrin | 8.8 | 7 | | |
Kelevan | | 240-290 | | |
Lindan (γ-Hexachlorcyclohexan) | 44 | 76-125 | 40-75 | 70 |
Methoxychlor | 7'000 | 1'000 | > 6'000 | |
Mirex | | 235-600 | | |
Pentachlorphenol | | 50-210 | | |
Perthan (Ethylan) | 6'600 | 8'170 | | |
Plifenat | > 2'500 | 10'000 | > 2'500 | > 2'500 |
Toxaphen (Camphechlor) | | 40-90 | | |
Trichlophenidin | > 16'000 | > 16'000 | | |
6. Umwelttoxikologie
Durch die bei der Malariabekämpfung in riesigen Mengen ausgebrachten chlorierten cyklischen Kohlenwasserstoffe (besonders DDT) hat die Umweltkontamination mit diesen Insektiziden alarmierende Ausmasse angenommen. Besonders kritisch ist die Dauerbelastung von Mensch und Umwelt durch DDT und andere Vertreter dieser Insektizidgruppe. Verantwortlich für die ungünstige Umweltverträglichkeit dieser Verbindungen ist die schlechte Abbaubarkeit nicht nur durch Säugetiere, sondern auch durch Bakterien, Kleinlebewesen oder Pflanzen. Obwohl wenig wasserlöslich gelangt DDT adsorbiert an Staubpartikel in die Gewässer, wo es vom Plankton aufgenommen und in marinen Nahrungsketten angereichert wird. Ein wichtiger Faktor für die globale Verteilung - auch im Polareis findet man beträchtliche Mengen DDT - ist die Verdampfung und Ausbreitung über Niederschläge. Durch die Kontamination der Umwelt kommt es über Nahrungsmittelketten zu hohen Konzentrationen bei Raubfischen, Seevögeln, Meeressäugern und Greifvögeln.
Begünstigt durch die Anreicherung in den Nahrungsketten lösen chlorierte cyklische Kohlenwasserstoffe sowohl akute wie chronische Vergiftungserscheinungen bei Wildtierpopulationen aus. Der Fettabbau während langer Fastenperioden zur Zeit des Brütens oder während des Vogelzuges kann Pestizidrückstände in einem Ausmass mobilisieren, dass akute Vergiftungserscheinungen auftreten. Es sind aber die rezeptorvermittelten und viel subtileren Wirkungen der chlorierten cyklischen Kohlenwasserstoffe, die langfristig zur Ausrottung von ganzen Spezies führen könnten. Diese Pestizide stehen heute nämlich im Verdacht, negative Effekte auf den Hormonhaushalt auszuüben. Als Stoffe mit endokriner Wirkung (auf Englisch "endocrine disrupters") werden Fremdstoffe bezeichnet, die störend in das Hormonsystem eingreifen und dadurch schädigende Wirkungen an Mensch und Tier erzeugen. Im Vordergrund stehen dabei die geschlechtshormonähnlich wirkenden Stoffe, da diese eng mit Reproduktions- und Entwicklungsstörungen in Zusammenhang stehen. Zum Beispiel sind chronische Schädigungen von DDT auf die Fruchtbarkeit von Vögeln bekannt geworden. Durch eine Störung des Kalkstoffwechsels wurden die Eier einiger Vogelarten dünnwandig und zerbrachen in den Nestern. Die darin enthaltenen Vogelembryos zeigten Erscheinungen von Feminisierung. Überaus deutliche östrogene Wirkungen zeigten sich bei Alligatoren in Florida, als ein Unfall in einer chemischen Fabrik im Jahre 1980 zur starken Verschmutzung eines Sees mit DDT führte. Dabei wurde bei den Alligatoren eine 90%ige Reduktion der Geburtsrate, eine Verminderung der Penisgrösse und weitere feminisierende Wirkungen beobachtet. Die Testosteronkonzentration im Serum der Männchen war stark erniedrigt und lag im Bereich, der normalerweise bei Weibchen gefunden wird. Die gleichzeitig hohe Inzidenz von Hodenhochstand in Populationen des Florida-Panthers dürfte ebenfalls auf die massiven Konzentrationen von DDT und seinen Metaboliten in der Nahrungskette zurückzuführen sein.
II. Spezielle Toxikologie - Pferd
1. Toxizität
1.1 | Minimale toxische Dosis (oral) |
Aldrin 15-30 mg/kg Körpergewicht, Dieldrin 22 mg/kg, Lindan 15 mg/kg.
1.2 | Minimale letale Dosis (oral) |
Chlordan 200-300 mg/kg, DDT 320 mg/kg, Lindan 30 mg/kg.
1.3 | Jungtiere / magere Tiere |
Fohlen und sehr magere Tiere mit wenig Depotfett sind besonders empfindlich.
2. Latenz
Bei akuten Vergiftungen beträgt die Latenz einige Minuten bis höchstens ein Paar Stunden.
3. Symptome
Im Folgenden Abschnitt sind die Symptome einer akuten Vergiftung mit chlorierten cyklischen Kohlenwasserstoffen beschrieben. Ein chronische Belastung mit diesen Verbindungen äussert sich zunächst durch Anorexie, Gewichtsverlust, Leistungsabfall und Wachstumsstörungen. Nach einer längeren Latenzzeit kann aber auch die chronische Exposition zum Ausbruch akuter Vergiftungssymptome führen.
3.1 | Allgemeinzustand, Verhalten |
| Unruhe, Ängstlichkeit, Ataxie, Hyperthermie, Erregung abwechselnd mit Depression und Festliegen, Koma |
|
3.2 | Nervensystem |
| Hyperästhesie, Tremor und Zuckungen, die am Kopf beginnen und sich nach kaudal ausbreiten, Leerkauen, tonisch-klonische Krämpfe, Konvulsionen, später Lähmungen |
|
3.3 | Oberer Gastrointestinaltrakt |
| Salivation |
|
3.4 | Unterer Gastrointestinaltrakt |
| Kolik |
|
3.5 | Respirationstrakt |
| Erhöhte Atemfrequenz, Tod durch Atemstillstand |
|
3.6 | Herz, Kreislauf |
| Erhöhte Pulsfrequenz |
|
3.7 | Bewegungsapparat |
| Keine Symptome |
|
3.8 | Augen, Augenlider |
| Blepharospasmus, Nystagmus, Mydriasis, Erblinden |
|
3.9 | Harntrakt |
| Keine Symptome |
|
3.10 | Fell, Haut, Schleimhäute |
| Keine Symptome |
|
3.11 | Blut, Blutbildung |
| Keine Symptome |
|
3.12 | Fruchtbarkeit, Jungtiere, Laktation |
| Keine Symptome |
4. Sektionsbefunde
Bei akuten Vergiftungen sind keine spezifische Organ- oder Gewebsveränderungen feststellbar. Nach einer chronischen Belastung mit chlorierten cyklischen Kohlenwasserstoffe lassen sich Parenchymschädigungen der Leber und, seltener, der Nieren feststellen. Degenerative Veränderungen am Herzmuskel können ebenfalls auftreten.
5. Weiterführende Diagnostik
Nachweis von chlorierten Kohlenwasserstoffen im Futter, Fettgewebe oder Leber mittels verschiedenen chromatographischen Methoden.
6. Differentialdiagnosen
Vergiftung durch
Organophosphate, Carbamate oder
Pyrethroide; Infektionskrankheiten mit zentralnervösen Störungen; Schimmelpilztoxine (z.B.
Aflatoxine,
Fumonisine,
Fusariotoxin T-2,
Mutterkorn und
Stachybotryotoxikose).
7. Therapie
7.1 | Boxenruhe |
| Pferd in ruhiger Boxe einstellen |
|
7.2 | Dekontamination |
| Aktivkohle und Glaubersalz oder Paraffinöl per Nasenschlundsonde, bei Hautkontakt mit Detergens abwaschen |
|
7.3 | Krämpfe |
| Diazepam oder Barbiturate verabreichen |
|
7.4 | Kreislauf |
| Flüssigkeit- und Elektrolytersatz |
|
7.5 | Respiration |
| Unterstützung der Atmung |
|
7.6 | Kontraindizierte Arzneimittel |
| Keine α-adrenerge Mittel zur Kreislaufbehandlung verabreichen: es besteht die Gefahr von Kammerflimmern, weil chlorierte cyklische Kohlenwasserstoffe den Herzmuskel für die arrhythmogene Wirkung von Katecholaminen sensibilisieren können. Bei Herzarrhythmien β-Blocker (zum Beispiel Propranolol, bis 1 mg/kg Körpergewicht langsam i.v.) einsetzen. |
8. Fallbeispiel
In einer landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft erkrankten 21 Kaltblutpferde, 10 davon starben und 6 mussten euthanasiert werden. Die erkrankten Pferde fielen durch Nachhandschwäche auf, die innerhalb weniger Stunden zum Festliegen führte. Dann zeigten die Tiere heftige Ruderbewegungen. Die Sensibilität der Hinterhand war teilweise vollständig erloschen. Puls, Atmung und Temperatur waren in der Norm. Nur die festliegenden Tiere hatten erhöhte Temperatur. Nachforschungen ergaben, dass der Raum, in dem der Hafer für die Pferde gelagert wurde, 10 Monaten vorher mit einem Kontaktherbizid gegen Kornkäferbefall behandelt worden war. Im Hafer und in den Lebern zweier verendeter Tiere konnte DDT und γ-Hexachlorcyklohexan nachgewiesen werden. Im Fütterungsversuch mit dem selben Hafer konnten bei Ratten ähnliche Symptome ausgelöst werden (Kühnert et al., 1969).
9. Literatur
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